Multiple Sklerose: Betreuung zu Hause
Multidisziplinäre Betreuung zu Hause erhöht die Lebensqualität bei gleichen Kosten.
Titel
Home based management in multiple sclerosis: results of a randomised controlled trial.
Autoren
C Pozzilli, M Brunetti, A M V Amicosante, C Gasperini, G Ristori, L Palmisano, M Battaglia.
Quelle
J Neurol Neurosurg Psychiatry 2002;73:250-255
Abstract |
Fragestellung
Patienten mit Multipler Sklerose haben komplexe Ansprüche an Unterstützung, Pflege, Rehabilitation und Medikation. Kommt es zu Unterschieden im medizinischen Ergebnis, wenn eine übliche spitalgestützte Betreuung verglichen wird mit einer massgeschneiderten Betreuung zu Hause (Heimbetreuung)? Unterscheiden sich die Kosten von Spital- und Heimbetreuung?
Hintergrund
Im Verlauf der Krankheit brauchen Patienten mit Multipler Sklerose Unterstützung und Behandlung durch verschiedene Dienste. Meist erbringt ein Spitalzentrum diese Leistungen. Wie bei anderen Leiden stellt sich die Frage, ob die Betreuung nicht auch ambulant geschehen könnte. Es wird angenommen, dass eine Heimbetreuung von den Patienten bevorzugt wird. Vermutet wird, dass die Heimbetreuung kostengünstiger sei. Die Kosten stationärer Behandlungen steigen ja zunehmend.
Die Autoren wollten vergleichen, ob das medizinische Ergebnis von spitalgestützter und Heimbetreuung vergleichbar sei. Dann wollten sie die Kosten der beiden Betreuungsformen vergleichen. Ihre Hypothese war, dass eine umfassende, multidisziplinäre Heimbetreuung das medizinische Outcome verbessern würde, und dies bei unveränderten Kosten.
Methoden
Studiendesign
Patienten von Zentren für Multiple Sklerose in Rom wurden angefragt. Teilnehmer wurden randomisiert entweder in eine Interventionsgruppe mit multidisziplinärer Heimbehandlung oder sie verblieben als Kontrollgruppe in der üblichen zentrumsgestützten Behandlung. Die Randomisierung erfolgte gruppiert sowohl nach Alter, wie nach dem Ausmass der Behinderung (gemessen mit Hilfe des EDSS-Score). Randomisiert wurde mit der Hilfe eines Computerprogramms. Die Studienanlage erlaubte keine Verblindung von Ärzten oder Studienteilnehmern. Wo möglich, wurden die Untersucher jedoch bei der Auswertung verblindet. Die denkbaren Störungen durch diese Studienanlage werden diskutiert.
Setting
Patienten wurden in römischen MS-Zentren rekrutiert. Die Teilnahme verweigert haben viele jüngere, kaum eingeschränkte Personen. Diese konnten sich eine Heimbehandlung kaum vorstellen und wollten häufig weiterhin vom Zentrum behandelt werden.
Einschlusskriterien
Die Multiple Sklerose musste gesichert sein. Die Patienten mussten im Umfeld des römischen Heimbetreuungsdienstes wohnen.
Ausschlusskriterien
Keine.
Intervention
Entsprechend dem aktuellen Anliegen wurden die Studienpatienten zu Hause von den verschiedenen Mitgliedern des ambulanten Teams besucht und dort betreut. Dieses Team setzte sich zusammen aus zwei Neurologen, einem Urologen, einem Rehabilitationsspezialisten, einem Psychologen, einem Physiotherapeuten, einer Krankenschwester, einem Sozialarbeiter und einem Koordinator. An den Wochentagen war eine Hotline besetzt, welche Auskünfte geben oder einen Hausbesuch organisieren konnte. Die Betreuer waren auch telefonisch erreichbar. Das Team konnte ausgedehntere Leistungen anbieten, als dies die üblichen Spitex-Dienste vermögen. Erst bei Überforderung dieser multidisziplinären Gruppe wurde hospitalisiert. Die Kontrollgruppe wurde weiter in der üblichen Art vom Multiple Sklerose-Zentrum betreut.
Primäre Endpunkte
Die Veränderung der Krankheitsaktivität über die Studiendauer wurde mit verschiedenen Instrumenten gemessen. Somatische Veränderungen der Multiplen Sklerose wurden erfasst mit Hilfe von EDSS, FIM, FSS, MMSE. Zur Messung der psychischen Dimensionen wurden CDQ, STAI und STAXI verwendet. Die Veränderung der subjektiv empfundenen Lebensqualität wurde erfasst mit dem SF-36. Endpunkte waren Veränderungen dieser Messparameter über den Studienverlauf. Als Kosten wurde alles erfasst, was das Gesundheitswesen für die beiden Studiengruppen bezahlen musste.
Sekundäre Endpunkte
Keine.
Beobachtungsdauer
12 Monate.
Resultate
Basisdaten
Die Interventions- und die Studiengruppe waren bei Beginn mehrheitlich vergleichbar, mit je etwa 2 Frauen auf einen Mann, mit einem Altersdurchschnitt von etwa 47 Jahren und einer Krankheitsdauer von etwa 10 Jahren. In den Multiple Sklerose-spezifischen Instrumenten zeigte sich eine vergleichbare Ausprägung der physischen Symptome.
Die Lebensqualität der Studiengruppe lag bei Beginn jedoch tiefer als diejenige der Kontrollgruppe. Diese Differenz wurde in der Auswertung berücksichtigt.
Patienten - Gruppenvergleich der Endpunkte
Medizinische Befunde
Gemessen wurde nach der einjährigen Studiendauer das funktionelle Resultat. Dabei zeigten sich bei den Skalen für neurologische und kognitive Beeinträchtigung (EDSS und Mini Mental State) keine Differenz zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. Behinderung und Fatigue wurden gemessen mit Hilfe von FIM und FSS, ebenfalls ohne Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Mit drei Instrumenten erhoben die Autoren den psychologischen Befund. Auch dabei zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Interventions- und Kontrollgruppe.
Lebensqualität
Die Lebensqualität wurde mit der Hilfe des SF-36
Fragebogens erhoben. Patienten mit Heimbetreuung zeigten in 4 von 10 Subskalen signifikante Verbesserungen: Sie gaben weniger Schmerzen an, sie empfanden ihre allgemeine Gesundheit, ihr soziales Funktionieren und ihr emotionales Befinden als besser.
Kosten
Erfasst wurden direkte Kosten, also diejenigen, welche das Gesundheitswesen betreffen. Nicht-medizinische Kosten wie Lohnausfall oder Auslagen der Familie wurden nicht berücksichtigt. In der Kontrollgruppe entstanden Kosten vorwiegend durch stationäre Behandlungen. Im Zentrum behandelte Patienten wurden rund 3 x häufiger hospitalisiert als diejenigen der ambulanten Gruppe. Diese Spitalkosten waren höher als diejenigen für das Heimprogramm. Die Interventionsgruppe verursachte etwa einen Drittel weniger Gesamtkosten.
Diskussion durch die Autoren
Die vorliegende Studie belegt, dass eine spezialisierte, multidisziplinäre Heimbetreuung für Menschen mit Multipler Sklerose einige Aspekte der Lebensqualität verbessern kann, ohne dass zusätzliche Kosten entstehen. Der neurologische Verlauf wird durch den Ort der Betreuung nicht beeinflusst.
Zusammenfassender Kommentar
Bemerkungen zum Studiendesign und Beschreibung
Aus der Patientenperspektive hat die Lebensqualität bei Multipler Sklerose – hier gemessen mit dem SF-36 – Vorrang vor dem somatischen Resultat. Die Lebensqualität lässt sich mit einer mehrheitlich ambulanten Betreuung verbessern. Dieser Befund verdient grosse Beachtung.
Die Aussagen zu den Kosten lassen sich nur beschränkt auf andere Gesundheitssysteme übertragen, da die lokalen Preise sich wohl unterscheiden von denjenigen in der Studie.
Besprechung von Dr. med. Urs Berner, 4058 Basel
J Neurol Neurosurg Psychiatry 2002;73:250-255 - C. Pozzilli et al
17.02.2004 - dde