Wieviel Somatik braucht die Psychiatrie?
Nun, ist diese Frage überhaupt richtig gestellt?
Wir wissen heute, dass somatische Krankheiten bei psychisch Kranken häufiger auftreten als bei psychisch Gesunden. Daher muss der Somatik in der Psychiatrie ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Gerade in der Akutpsychiatrie mit ihren vielfältigen psychopathologischen Zustandsbildern, können somatische Diagnostik und Therapie erheblich erschwert sein. Akute psychopathologische Veränderungen können Motivation und Compliance für diagnostische und therapeutische Massnahmen beeinträchtigen. Dies erfordert einerseits hohe internistische Kompetenz vor Ort, aber auch Erfahrung im Umgang mit psychisch Kranken.
In krassem Gegensatz dazu steht aber die Feststellung, dass die weitaus grösste Zahl psychiatrischer Kliniken in der Schweiz über keine eigenen Internisten verfügen. Somatische Fragestellungen werden somit häufig an Konsiliardienste weitergeleitet. Die Schwäche dieser Art der somatischen Versorgung liegt im wesentlichen in der Festlegung der Dringlichkeitsschwelle zur Aufbietung des konsiliarisch tätigen Internisten. Auf der anderen Seite werden somatisch akut erkrankte psychiatrische Patienten oft auch frühzeitig ins nahegelegene Akutspital verlegt. Für den in der Psychiatrie tätigen Arzt liegt hier die Schwierigkeit bei der Einschätzung der somatischen Indikation, welche eine stationäre Aufnahme rechtfertigt. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass in somatischen Kliniken in der Regel Einrichtungen fehlen, welche es erlauben würden psychotische, manische oder suizidale Patienten unter Wahrung der Sicherheit zu betreuen. Patienten die gleichzeitig psychisch und körperlich erkranken und daher sowohl psychiatrische wie auch somatische Betreuung brauchen, verursachen verständlicherweise hohe Gesundheitskosten.
Da aus Spargründen niemand bereit ist, in der Psychiatrie die entsprechende Infrastruktur zur Behandlung psychisch Kranker mit gravierenden somatischen Problemen zu schaffen, fallen sie regelrecht zwischen Stühle und Bänke. Da sie ausserdem sich aufgrund ihrer kranken Psyche schlecht wehren können und über keine schlagkräftige Lobby verfügen, können sie zur Verbesserung dieser Situation nichts beitragen. Leider sind es neben den Spitalökonomen auch die Psychiater selbst, welche die Bedeutung der Somatik in der Psychiatrie zu wenig gewichten. So gesehen hat die Somatik in der Psychiatrie auch eine ganz erhebliche politische Dimension.
Zurück zu den medizinischen Fakten
Psychiatrie ist in höchstem Mass interdisziplinär und Psychiatrische Diagnosen sind sehr oft Ausschlussdiagnosen! Psychisch Kranke sind im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung gehäuft auch körperlich krank. Felker et al. 1996 fanden in einer Metaanalyse bei Patienten, die über alle Altersklassen gemittelt waren, in bis zu 50% relevante somatische Begleiterkrankungen – man spricht hier von somatischer Komorbidität. Bei der Eintrittsuntersuchung in die psychiatrische Klinik fanden sie bei 30% eine bisher nicht bekannte, körperliche Störung, wobei gar brisanterweise bei 20% das körperliche Leiden Ursache der psychischen Störung war. Die Mehrzahl der somatischen Diagnosen betraf internistische Probleme.
Aus den Resultaten von Felker et al. lassen sich für die Praxis wichtige Schlussfolgerungen ziehen:
- Jeder Patient mit psychischem Leiden, ob ambulant oder stationär, bedarf einer internistischen Routineuntersuchung.
- Patienten mit somatischen Befunden sollen niederschwellig einer konsiliarischen Beurteilung unterzogen werden.
In diesem Zusammenhang kommt der Triage bei der Aufnahme in die Klinik eine bedeutende Rolle zu. Idealerweise würde jede psychiatrische Klinik über eine interdisziplinäre Aufnahmeeinheit verfügen, die gleich von Anbeginn notwendige Triagen veranlassen könnte.
Es sei nochmals betont, dass internistische und psychische Krankheiten oft in vielfältiger Wechselwirkung stehen. So sind psychische Störungen bei Patienten in höherem Lebensalter praktisch immer von bedeutsamen internistischen Erkrankungen begleitet (z.B. Demenzen, v.a. vaskuläre oder gemischte Formen) bzw. liegen den psychischen Störungen zugrunde wie beispielsweise beim Delir, für das ältere Menschen aus verschiedenen Gründen eine vermehrte Anfälligkeit zeigen und das eine Notfallsituation im somatischen Sinn darstellt.
Trotz immenser technokratischer Einflüsse auf das Medizinalgeschehen, ist in der Inneren Medizin der Merksatz «Die Anamnese ist die halbe Diagnose» unverändert gültig. In der Psychiatrie erlangen – oft mehrzeitige – Fremdanamnesen häufig ganz spezielle Bedeutung und der Aufwand lohnt sich immer! In folgender Tabelle sind einige der wichtigsten internistischen Störungen oder Komplikationen aufgeführt:
Elektrolytstörungen
Hyponatriämien bei unmässiger Flüssigkeitszufuhr, manchmal bis zur Wasserintoxikation, aber auch durch SIADH (Syndrome of Inappropriate ADH Secretion)-ähnliche Mechanismen bei gewissen Psychopharmaka (Venlafaxin, Carbamazepin etc.), Diuretikamissbrauch bei Anorexie. Dort oft auch Hypokaliämie unter Laxantienabusus und gehäuftem Erbrechen. Exsikkose v.a. bei älteren, oft dementen Patienten.
Thrombosen, Lungenembolie
Risiko durch Sedation mit konsekutiver körperlicher Inaktivität, allenfalls kombiniert mit mangelnder Flüssigkeitsaufnahme und zusätzlichen Einflüssen von Ovulationshemmern in Kombination mit Nikotin. Niedrigpotente Neuroleptika können einen substanzeigenen thrombogenen Einfluss haben.
Lungenentzündung
Begünstigende Faktoren wie exorbitanter Nikotinkonsum, Resistenzminderung bei Aethylabusus, Drogenkonsum und deren Folgekrankheiten, Aspiration im Rahmen sedierender Medikationen.
Herzerkrankungen, arterielle Hypertonie
Risiko erhöht durch medikamentös (Neuroleptika, Antidepressiva) begünstigte Adipositas bis hin zum metabolischen Syndrom, hohen Salzkonsum bei überwiegender Fast-Food-Ernährung:
Abbildung 1: Gewichtssteigerung durch Atypika
Selten sind Myokarditis, Kardiomyopathien unter gewissen Neuroleptika (z.B. Clozapin). Ferner seien QTc-Verlängerungen mit dem Risiko der Induktion einer Kammertachykardie vom Typ Torsade de pointes erwähnt. Diese Nebenwirkung wird v.a. mit den atypischen Neuroleptika in Verbindung gebracht, wurde aber auch schon unter den klassischen trizyklischen Substanzen beschrieben:
Abbildung 2: Risikofaktoren für QTc-Verlängerung bei psychiatrischen Patienten
Auch bei Methadon in höheren Dosierungen muss gemäss neueren Meldungen mit solchen Komplikationen gerechnet werden.
Endokrinopathien
Hypothyreose unter Lithiummedikation, Hyperthyreose, Diabetes mellitus – einerseits im Rahmen der angesprochenen Gewichtszunahme, die unter atypischen Neuroleptika wie Clozapin und Olanzapin massiv sein kann – andererseits weisen gewisse Atypika direkte diabetogene Effekte auf, die im einzelnen noch nicht restlos geklärt sind. Verschlechterung bestehender diabetischer Stoffwechsellage ist ebenfalls möglich. Morbus Addison als Differentialdiagnose bei anorektischen Zustandsbildern und schweren Depressionen beachten.
Medikamentennebenwirkungen und -interaktionen, Intoxikationen
Nebenwirkungen sind sehr häufig, vor allem bei höheren Dosierungen. Unerwünschte Sedation und Nausea wird oft im Rahmen internistischer Untersuchungen angegeben. Gangunsicherheit ist bereits ein Hinweis auf eine Überdosierung. Die früher oft beobachtete arterielle Hypotonie mit konsekutiven Stürzen unter trizyklischen Antidepressiva ist seit der SSRI-Ära deutlich seltener geworden. Bei Medikamentenkombinationen müssen Interaktionen am Cytochrom P 450 in die therapeutischen Überlegungen miteinbezogen werden. Medikamentöse Polypragmasien sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Besonders gefährdet sind dabei ältere Patienten!
Nikotinabusus
Alle bekannten Folgeerscheinungen kardiovaskulär und pulmonal.
Alkoholabusus
Mit allen internistisch-neurologischen Komplikationen bis hin zur Demenz. An Interferenzen zwischen verminderter hepatischer Syntheseleistung und SSRI denken – Blutungsgefahr. Niederschwellige, hochdosierte und genügend lange Vitamin B-Substitution!
Hauterkrankungen
Psoriasis gehäuft bzw. verschlechtert unter Lithium. Allergische Hauterscheinungen sind unter Phasenprophylaktika (Carbamazepin, Oxcarbazepin, Valproinsäure und insbesondere Lamotrigin – cave skin rush unter zu schneller Aufdosierung) gelegentlich zu beobachten. Erwähnt seien auch Ödeme unter Olanzapin.
Zusammenfassung
Psychiatrie ist eine differentialdiagnostisch sehr weitläufige Fachrichtung. Genaue somatische Evaluation jedes Psychiatriepatienten ist obligat, um alle behandelbaren Ursachen psychischer Störungen miterfassen zu können. Dazu ist es notwendig, über Kenntnisse der internistisch-psychiatrischen Zusammenhänge zu verfügen, bzw. die entsprechenden Fachärzte ins diagnostisch-therapeutische Procedere miteinzubeziehen. Ernsthafte Nebenwirkungen der Psychopharmaka sind nicht sehr häufig, werden aber gerade deswegen oft übersehen.
Dr. med. Theodor Huber, Chefarzt Innere Medizin, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich
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