Das Reizdarmsyndrom
Das Reizdarmsyndrom (= RDS) ist eines der häufigsten Ursachen für chronische Abdominalbeschwerden. Die Prävalenz liegt in der westlichen Welt bei ungefähr 10%. Lediglich ein Drittel der Bevölkerung mit Beschwerden sucht jedoch ärztliche Hilfe. Dennoch liegt der Anteil von RDS-Patienten in Allgemeinpraxen bei 10-15%.
Definition
Allen funktionellen gastrointestinalen Krankheiten fehlen strukturelle Pathologien und spezifische Krankheitsmarker. Deshalb mussten auch zur Definition des Reizdarmsyndroms epidemiologische Daten herangezogen werden. Eine Konsensus Konferenz in Rom definierte die Kriterien zur Diagnose des «Irritable Bowel Syndrome» (= IBS) bzw. des hier synonym verwendeten Begriffes «Reizdarmsyndroms» (= RDS). Diese phänomenologischen Kriterien sind jetzt leicht modifiziert als «Rom II-Kriterien» publiziert und weit verbreitet (s. Tabelle 1). Das RDS wird hier als Unbehagen oder als Schmerz im Abdomen von mindestens 12 Wochen Dauer beschrieben, deren Ursache nicht in strukturellen oder biochemischen Abnormitäten liegt. Die Beschwerden gehen mit einer Veränderung der Stuhlgewohnheiten einher. Neben den Hauptkriterien wurden Nebenkriterien definiert, die nicht nur die Zuverlässigkeit der Diagnose des RDS in zunehmender Zahl steigern, sondern auch erlauben 2 Subtypen zu unterscheiden: den diarrhö-prädominanten und den obstipations-prädominanten Typ (s. Tabelle 2).
Pathophysiologie
Mehrere Faktoren, die sich gegenseitig nicht ausschliessen, werden dem RDS zugrundegelegt. Gewisse Patienten mit RDS zeichnen sich durch eine viszerale Hypersensitivität aus, deren Ursache unklar ist. Daneben finden sich verschiedenste intestinale Motilitätsstörungen, die sich jedoch lediglich quantitativ von physiologischen Reaktionsmustern unterscheiden. Ungefähr 60% der RDS-Patienten die ärztliche Betreuung in einem tertiären Zentrum suchen, zeigen psychiatrische Probleme, wobei Depressionen, Angststörungen oder andere somatoforme Störungen im Vordergrund stehen. Patienten hingegen, die den Arzt nicht aufsuchen, unterscheiden sich in psychosozialer Hinsicht nicht von Gesunden. Offensichtlich beeinflussen psychologische Aspekte zumindest das Krankheits- und Konsultationsverhalten. Patienten mit Laktoseunverträglichkeit oder Glutenunverträglichkeit (= Zöliakie) schildern zum Teil ähnliche Symptome wie RDS-Patienten. Dennoch findet sich keine ursächliche Beziehungen zwischen den Krankheiten und die Therapie bei RDS-Patienten mit einer entsprechenden Unverträglichkeit lindert bestenfalls die Beschwerden.
Diagnostik
Die «Rom II-Kriterien» ermöglichen allein durch die Anamnese eine positive und zuverlässige Diagnose des RDS (s. Tabelle 1+2). Die meisten Patienten benötigen zum Ausschluss einer organischen Krankheit keine ausgedehnten Untersuchungen. Bei «Alarmsymptomen» (s. Tabelle 3) muss ein organisches Leiden ausgeschlossen werden. Bei jüngeren Patienten ist dabei vor allem an eine chronische entzündliche Darmkrankheiten zu denken. Bei Patienten, die über 45 Jahre alt sind und die erst seit kurzem über Darmbeschwerden klagen, muss an ein Kolonkarzinom gedacht werden. Wird die Klinik von Diarrhö dominiert, sind auch Malabsorptionen und parasitäre Darminfekte aktiv zu suchen. Auch wenn die Anamnese und der klinische Eindruck mit einem RDS zu vereinbaren ist, soll in eng begrenztem Rahmen eine anderweitige Ätiologie ausgeschlossen werden. Im Labor reicht dabei die Untersuchung des Blutbilds, des Chemogramms und die Bestimmung des TSH sowie des C-reaktiven Proteins oder der Blutsenkungsgeschwindigkeit. Vor allem bei diarrhö-prädominantem RDS sind Stuhluntersuchungen auf Parasiten sinnvoll. Stehen Diarrhö und Blähungen im Vordergrund der Beschwerden, lohnt es sich eine Laktoseunverträglichkeit allenfalls auch eine Zöliakie zu suchen.
Therapie
Obwohl sich die meisten therapeutischen Empfehlungen auf unbefriedigende Studienresultate abstützen, haben sich im klinischen Alltag teils empirisch Algorithmen zur Behandlung etabliert.
Allgemeine Massnahmen
Die beruhigende Information besitzt oft bereits den gewünschten therapeutischen Wert. Entscheidend ist dabei sicher initial ein Vertrauen in die Diagnose zu vermitteln und über die funktionelle Natur der Beschwerden aufzuklären. Dabei sollte der Patient über die Harmlosigkeit seiner Symptome informiert werden. Obwohl die Lebensqualität durch die Symptome eingeschränkt werden kann, ist die Lebenserwartung unverändert.
Diätetische Massnahmen
Entgegen subjektiver Erfahrungen der Patienten spielt die Art der Nahrung bei der Provokation von Beschwerden häufig keine entscheidende Rolle. Trotzdem empfiehlt es sich vermutete Zusammenhänge mit bestimmten Nahrungsmitteln weiterzuverfolgen. Bei einer Laktoseunverträglichkeit lässt sich durch den Verzicht von Milchprodukten die Klinik zumindest etwas lindern. Auch das Vermeiden blähender Speisen wie Hülsenfrüchte oder künstlicher Zucker, von Koffein oder von Alkohol wirkt sich häufig günstig aus. Auf der anderen Seite ist aber auch darauf zu achten, bei Patienten mit extensiven Diäteinschränkungen eine Wiederbelastung zu versuchen. Häufig wird der vermutete kausale Zusammenhang nicht mehr zu bestätigen sein. Mit einer faserreichen Diät oder mit Quellmitteln lässt sich bei obstipations-prädominantem RDS die Stuhlqualität häufig zufriedenstellend korrigieren. Umstritten ist jedoch der Nutzen einer Fasersubstitution zur Behandlung der abdominellen Schmerzen oder der Diarrhö. Patienten berichten hier teilweise gar über eine Verschlechterung ihrer Symptome.
Medikamentöse Therapie
Abdominelle Schmerzen und Blähungen
Zur Therapie der abdominelle Beschwerden erwiesen sich Anticholinergika und Spasmolytika als wirksam. Im klinischen Alltag werden am häufigsten Spasmolytika eingesetzt, um störende Kontraktionen der glatten Darmmuskulatur zu mildern. Mebeverin und Pinaveriumbromid relaxieren dabei die glatte Muskulatur vermutlich durch verschiedene direkte Interaktionen, jedoch ohne merkliche anticholinergische Nebenwirkungen. Als pflanzliches Produkt wird häufig Pfefferminzöl mit ebenfalls direkt relaxierender Wirkung auf die glatte Muskulatur versucht.
Diarrhö
In der Therapie der Diarrhö sind Opioide wirkungsvoll. Primär sollte das synthetische Opioid Loperamid versucht werden, das den intestinalen Transit verzögert, die intestinale Flüssigkeitsresorption erhöht und den analen Sphinktertonus verbessert. Dadurch lässt sich die Diarrhö lindern und der Stuhldrang wie auch das Stuhlschmieren vermindern.
Obstipation
Neben den bereits erwähnten Fasersupplementen oder einer Laxantientherapie können keine valablen medikamentösen Massnahmen empfohlen werden. Osmotisch wirkende Produkte induzieren häufig Blähungen und Schmerzen, wobei Präparate mit Polyethylenglykol hier einen Vorteil bieten können. Stimulierende Laxantien sind sicherer als früher vermutet. Da sie aber häufig abdominelle Krämpfe induzieren, können Sie auch nicht uneingeschränkt empfohlen werden. Prokinetika haben keinen Stellenwert im klinischen Alltag.
Psychopharmaka
Die häufige Assoziation eines mässig bis schwer ausgeprägten Reizdarmsyndroms mit Depressionen, legte schon früh den Schluss nahe, antidepressiv wirkende Medikamente einzusetzen. Im Verlaufe der Zeit wurde jedoch offenkundig, dass diese Medikamente auch neuromodulatorische und analgetische Eigenschaften besitzen, unabhängig ihrer psychotropen Wirkung. Im Vergleich zur eigentlichen antidepressiven Indikation wirken die Medikamente jedoch schneller und bei niedriger Dosis analgetisch und neuromodulatorisch. Neben den trizyklischen Antidepressiva wie Amitriptylin scheinen auch Serotonin-Aufnahmehemmer wie Fluoxetin wirksam zu sein.
Serotonin-Rezeptoragonisten und -antagonisten
Die in den letzten Jahren entwickelten Therapieansätze versuchen spezifisch die viszeralen Afferenzen neuromodulatorisch zu beeinflussen. Dabei bot sich Serotonin (= 5-Hydroxitryptamin; 5-HT) als Neurotransmitter im Darm an. In der Schweiz ist momentan lediglich der partielle 5-HT4-Agonist Tegaserod kommerziell erhältlich. Dieser erwies sind in der Behandlung des obstipations-prädominanten RDS als wirksam. In naher Zukunft wird zur Therapie des diarrhö-prädominanten RDS der 5-HT3-Antagonist Cilansetron zur Verfügung stehen, der sich in ersten Studien als effizient erwies. Andere 5-HT3-Antagonisten, die kommerziell bereits erhältlich sind (z.B. Ondansetron) zeigen demgegenüber nur eine unsichere therapeutische Wirksamkeit.
Alternative Therapien
Viele der Patienten mit RDS suchen komplementäre Behandlungsformen. In einer qualitativ guten, randomisierten Studie erwiesen sich chinesische Gewürzmischungen als erfolgreich. Auf der anderen Seite vermochten Akupunktur oder Reflexzonentherapie keinen therapeutischen Benefit zu erzielen.
Psychotherapeutische Ansatzpunkte
Psychotherapeutische Ansätze scheinen bei der Behandlung des RDS von Nutzen zu sein. Kognitive Verhaltenstherapien, Relaxationen, Hypnose und Psychotherapien können dabei bei der Betreuung des Patienten helfen.
PD Dr. med. Lukas Degen, Leitender Arzt, Abteilung Gastroenterologie und Hepatologie, Kantonsspital Basel.
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