Wenn Nerven schmerzen – Update zu neuropathischen Schmerzen
Einführung
Ein bereits im 19. Jahrhundert beschriebenes, häufiges chronisches Schmerzbild, der neuropathische Schmerz (NPS), hat erst in den letzten Jahren – im Zusammenhang mit einem besseren pathophysiologischen Verständnis und entsprechend effektiveren Therapiemethoden – Bedeutung und Bekanntheit gewonnen. Ziel dieses Artikel ist es, Definition, Pathophysiologie, klinische Manifestationen dieses Schmerztyps und die Therapiemöglichkeiten zusammenfassend für die Praxis darzustellen.
Definition
In Abgrenzung zum nociceptiven Schmerz wird dann vom NPS gesprochen, wenn eine Läsion oder Dysfunktion des zentralen oder peripheren Nervensystems die Ursache des Schmerzes darstellt:
Der NPS kann seinen Ursprung sowohl in einem peripher-neurologischen Engpasssyndrom, einer chronischen Radikulopathie, in einer Polyneuropathie/Polyradiculitis verschiedenster Ursachen, einer entzündlichen Neuralgie, als auch in einer zentralen, z.B. ischämischen oder auch traumatischen Veränderung afferenter Schmerzbahnen haben – also sowohl in einem Carpaltunnelsyndrom als auch in einer Thalamusischämie oder einer Multiplen Sklerose.
Die Klassifikation NPS richtet sich u.a. nach der Krankheitsentität, der anatomischen Verteilung und dem Nachweis histologischer Veränderungen.
Epidemiologie
Mindestens 1/5 an Schmerzzentren erfasster Patienten leiden an (meist ungenügend behandelten) neuropathischen Schmerzsyndromen. Bei einem ebenso grossen Anteil operierter Patienten geht man von einem nachfolgenden, lang anhaltenden NPS als Komplikation aus. Einen Spezialfall stellt die Amputation von Gliedmassen dar, wo bis zu 60% der Patienten über anhaltende, häufig ausgeprägte Schmerzen im Bereich des nicht mehr vorhanden Körperteils klagen.
Der Miteinbezug von Dysfunktion des ZNS umfasst auch zentrale Schmerzen bei ca. 1/3 aller Rückenmarksverletzungen, ca. 1/5 der MS- und 1-3% der Schlaganfallpatienten. Zentrale Schmerzen sind u.a. auch bei Parkinson- und Epilepsiekranken möglich.
Die Mannigfaltigkeit der neuropathischen Schmerzbilder, die erst teilweisen Erklärungsmodelle der Schmerzsyndrome und wohl auch die mit der Dauer des Schmerzes zunehmend schwierigere Führbarkeit der Betroffenen führen dazu, dass ein grosser Prozentsatz der Patienten erst nach Konsultation mehrerer Ärzten (auch Neurologen) die korrekte Diagnose und entsprechend auch adäquate Therapie erhalten.
Pathosphysiologie
Die anhaltende Nervenläsion (peripher oder zentral) führt durch den chronischen afferenten Reiz zu nachweisbaren Veränderungen zentralnervöser (spinaler und supraspinaler) Strukturen. Diese anhaltenden afferenten spinalen Reize haben eine ungenügende zentrale Hemmung/Modulation zur Folge, was zu einer Verminderung absteigender hemmender Fasern führt und zu einer Reorganisation synaptischer Strukturen sowohl im Hinterhorn als auch supraspinal.
Weiter können sich eine verstärkte Wechselwirkung zentraler glutaminerger und peptiderger Neurotransmitter bzw. chemischen Veränderungen von Membranrezeptoren entwickeln. Es kann auch zu einer Ausweitung, u.a. auf das sympathische Nervensystem, mit entsprechend verstärkten vegetativen Begleiterscheinungen kommen.
Diese histologisch nachweisbaren Veränderungen bzw. Änderungen der Funktion der Synapsen (insbesondere Calcium-abhängiger Ionenkanäle) bilden das pathophysiologische Korrelat zur Chronifizierung des Schmerzes. Die Veränderungen an verschiedenen Abschnitten des schmerzverarbeitenden Systems und unterschiedliche Lokalisation der auslösenden Verletzung sind wahrscheinlich verantwortlich für die unterschiedliche Beschwerdemanifestation:
Einen Spezialfall stellt der Deafferenzierungsschmerz (Phantomschmerz, Anaesthesia dolorosa) dar, wo ein zentraler Umbewertungsprozess des zugeführten Schmerzreizes stattfindet.
Klinische Bilder
Die Bandbreite klinischer Bilder ist bereits weiter oben erwähnt (siehe auch Tabelle 2).
Typischerweise werden spontane Schmerzen mit brennend-bohrendem oder einschiessend-schneidendem Charakter angegeben. Es können sowohl negative sensorische Phänomene (Ausfall einer Qualität) als auch positive (Parästhesien, Dysästhesien, evozierte Schmerzen wie Allodynie oder Hyperalgesie) entstehen. Daneben können sich begleitende autonome Störungen entwickeln:
Untersuchungen
Neben einer eingehenden Anamnese ist eine detaillierte neurologisch-somatische Untersuchung, insbesondere auch der verschiedenen sensiblen Qualitäten nötig (mit Dokumentationen des Verlaufes). Daneben ist Erfassung von Komorbiditäten wie Schlafstörung, Angst- oder depressive Symptomatik sowie vegetative Funktionsstörungen wichtig.
In einzelnen Fällen können zusätzlich elektrodiagnostische Abklärungen (ENMG, Messung sympathischer Funktionen), internistische Abklärungen (Polyneuropathie, Tumorerkrankungen), radiologische (ZNS- bzw. Wirbelsäulenpathologien) oder bioptische Abklärungen (Nerv-/Muskelbiopsie oder Hautbiopsien) notwendig sein.
Behandlung
Grundlage der Behandlung ist die möglichst genaue Kenntnis des Schmerzbildes, seiner möglicherweise ausschaltbaren Ursachen (z.B. periphere Engpasssyndrome) und der zentralen pathophysiologischen Mechanismen. Eine genaue klinische Analyse des Schmerzbildes kann Rückschlüsse auf die zentralen Mechanismen zulassen. Es sind auch verschiedene solche parallel zueinander möglich.
Die Therapien sind multimodal zu gestalten und umfassen entsprechend chirurgische oder internistische Massnahmen (Ausschaltung oder optimalere Behandlung der Grunderkrankung wie z.B. Diabetes oder Tumoren), physikalische und schliesslich medikamentöse Massnahmen; daneben aber auch eine Behandlung der Begleitsymptome (Schlafstörungen, psychiatrische Symptome).
Medikamentöse Therapien
Es gibt nicht «den» neuropathischen Schmerz, deshalb wären massgeschneiderte Medikamente, die ursächlich an den verschiedenen zentral ablaufenden pathologischen Vorgängen eingreifen könnten, ideal. Die drei heute hauptsächlich eingesetzten Medikamentengruppen sind in Tabelle 4 zusammengefasst.
Der Einsatz muss an den Typ des Schmerzsyndroms angepasst werden, es sind Kombinationen dieser Substanzgruppen möglich. Wesentlich bei der medikamentösen Therapie ist die genaue Orientierung des Patienten, die Begleitung auch zur Beherrschung von (initial evtl. überwiegenden) unerwünschten Arzneimittelwirkungen und eine periodische Reevaluation des Therapieschemas. Die Zusammenarbeit mit einem Schmerzspezialisten ist empfehlenswert.
Zu den einzelnen Substanzgruppen
Antidepressiva
Die trizyklischen Substanzen bleiben von den Antidepressiva am besten dokumentiert, die Wirkung beruht auf einer Steigerung der schmerzhemmenden Aktivität; häufig sind parallel ein antidepressiver und schlaffördernder Effekt wünschenswert. Ebenfalls wirksam können Seratonin-Nor- adrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Venlafaxin) oder auch SSRI eingesetzt werden.
Antikonvulsiva/Ionenkanalblocker
Die Wirkung erfolgt über verschiedene Membran-stabilisierende Mechanismen, insbesondere an den kalziumabhängigen Ionenkanälen im Hirn und Hinterhornbereich. Bei den neueren Präparaten (Gabapentin und insbesondere Pregabalin, z.T. auch Lamotrigin) ist der Vorteil die besonders gute Verträglichkeit, währenddem die Effektivität (Number Needed to Treat [50%-ige Schmerzreduktion]) etwas höher ist (NNT 4-6) als bei Antidepressiva und Opiaten (NNT 2-4). Zur Zeit wirken zusätzlich anxiolytische und schlaffördernde Effekte günstig (insbesondere bei der neu eingeführten Substanz Pregabalin).
Opiate
Diese sind häufig als ad-on-Therapie (z.B. bei trizyklischen Antidepressiva) und vor allem in retardierter Form (Pflaster, evtl. Infusion) wirksam.
Weitere Substanzen
Das topisch anwendbare Capsaicin wirkt über den reversiblen Funktionsverlust von C-Fasern. Seltener (bzw. bei spezifischen Indikationen) eingesetzt werden Neuroleptika, Kortikosteroide, Immunglobuline, Calcitonin und NMDA-Antagonisten u.a.. Ebenfalls in Einzelfällen sinnvoll sind therapeutische Blockaden oder neurochirurgische Eingriffe am Hinternhorn des Rückenmarkes.
Dr. med. Peter Christian Wyss, Facharzt FMH Neurologie, Winterthur.
Referenzen Literatur beim Autor.
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Medizin Spektrum |
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01.08.2005 - dde |
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