Parästhesien an der Hand: Differentialdiagnose eines häufigen Problems
Parästhesien an der Hand sind im Praxisalltag ein häufiges Problem. Dabei ist das Carpaltunnelsyndrom (CTS) sicher die bekannteste Ursache, aber nicht die häufigste, dies nicht einmal in einer neurologischen Spezialsprechstunde. Gleichartig empfundenes Kribbeln, Einschlafen, Brennen und Taubheitsgefühl wie bei neurogenen Störungen wird auch bei Reizzustand von Gelenksstrukturen, Sehnen, Muskeln und bei Hyperventilation angetroffen. Nicht selten liegen gleichzeitig verschiedene Ursachen vor und oft ist es schwierig, ohne Zusatzuntersuchung das eine vom andern abzugrenzen. Dabei erweist sich die Elektroneurographie als besonders hilfreich; in ausgewählten Fällen kann ein MRI nötig werden. Auch der Effekt einer Probebehandlung kann diagnostisch weiterhelfen, indem die Ruhigstellung mit redressierender Handgelenksschiene beim CTS und bei Tendinopathien meist hilfreich ist, bei arthrotischen Problemen hingegen die Beschwerden oft verschlimmert. Ähnlich verhält es sich mit der Gabe von NSAR (topisch oder systemisch), welche bei arthrogener und myotendinogener Ursache häufig zumindest vorübergehende Erleichterung bringen, kaum jedoch beim CTS.
Im Folgenden soll speziell unter klinischen Gesichtspunkten kurz auf ein paar ausgewählte Praxis-relevante Affektionen eingegangen werden, welche mit Parästhesien an der Hand einhergehen können.
Carpaltunnelsyndrom (CTS)
Das Carpaltunnelsyndrom beinhaltet eine Kompression des N. medianus an der Handwurzel bei seiner Passage unter dem Retinaculum flexorum. Auf die in der Literatur genannten potentiellen Ursachen soll hier nicht näher eingegangen werden, in den meisten Fällen findet man ohnehin keine; nebst zahlreichen exogenen Faktoren wie Hypothyreose oder Diabetes mellitus spielen auch endogene eine ganz wesentliche Rolle, indem das CTS z.B. bei Frauen häufiger ist als bei Männern, im Alter wesentlich häufiger als in der Jugend und auch familiär gehäuft vorkommen kann. In der Regel sind beide Hände betroffen, typischerweise asymmetrisch, mit stärkerer Ausprägung an der dominanten Hand.
Meistens stehen Nacht- bzw. Morgen-betonte Parästhesien an den Fingerkuppen I bis III, oft auch an allen Fingern, im Vordergrund. Dies kann in fortgeschritteneren Fällen mit Brennen und Schmerzen verbunden sein, welche von den Fingerspitzen palmar gegen proximal ausstrahlen, bis zum Ellbogen oder gar bis zur Schulter und welche die Patienten aus dem Schlafe wecken, auf Umherlaufen und Ausschütteln der Hände bessern; morgens beim Erwachen oft mit Schwellungs- und Steifigkeitsgefühl, was mit zunehmender Aktivität zurückgeht. Tagsüber bestehen meist weniger Beschwerden: am ehesten fehlendes Fingerspitzengefühl (bei feinen Manipulationen), Fallenlassen von Gegenständen, vielleicht «elektrische Zwicke» im Bereiche des Carpaltunnels bei bestimmten Handgelenksbewegungen, jedoch kaum relevante Schmerzen ausser bei der akuten Form des CTS, wo die Schmerzen ganz im Vordergrund stehen können.
Polyneuropathie
Bei der Polyneuropathie bestehen ebenfalls akralbetonte Sensibilitätsstörungen, meistens an sämtlichen Fingern beider Hände (symmetrisch). Auch hier ist tagsüber das Taubheitsgefühl vorherrschend, vielleicht eine Berührungsüberempfindlichkeit (Hyperästhesie, Hyperpathie), während in Ruhe inkl. nachts die «Plussymptome» wie Kribbeln, Brennen etc. in den Vordergrund treten, wobei dies im Allgemeinen nicht die Intensität erreicht wie beim CTS und kaum zur Störung des Nachtschlafes führt. Die Unterscheidung einer Polyneuropathie vom CTS ist in praxi meistens einfach, da bei der ersteren immer auch die Füsse in ähnlicher Weise mitbetroffen sind, meistens sogar in stärkerem Ausmass und schon vor Beschwerdenbeginn an den Händen. Hingegen kann es schwieriger sein, bei einer (z.B. diabetischen) Polyneuropathie ein zusätzliches CTS abzugrenzen, was dann für die Patientin u.U. ganz andere therapeutische Perspektiven hätte.
Zervikoradikuläres Syndrom
Das zervikoradikuläre Syndrom geht meistens mit einem mehr oder weniger akuten Zervikalsyndrom einher mit radikulär ausstrahlenden Schmerzen, welche durch Kopfbewegungen und Husten/Pressen provozierbar sind. Im typischen Fall können auch die Parästhesien durch derartige Provokationsmanöver ausgelöst oder verstärkt werden. Fast immer finden sich senso-motorische Ausfälle, welche segmental zugeordnet werden können. Handparästhesien als «Leitsymptom» dürften beim zervikoradikulären Syndrom eher die Ausnahme sein.
Überlastungstendinopathie/Enthesiopathie
Tendinogene Probleme sind wahrscheinlich die häufigste Ursache von Handparästhesien beim jüngeren Menschen, meistens als Folge von mechanischer Überlastung, sei dies akut wie z.B. beim Sport oder chronisch wie z.B. bei stereotypen Arbeitsabläufen. Sicher die häufigste entsprechende Affektion ist die Epicondylopathia humeri; ist diese radial bzw. am Ansatz der Hand-/Fingerextensoren, so werden die Parästhesien eher an der radialen Handhälfte inkl. Finger I bis III wahrgenommen, im Gegensatz zum CTS dorsal-betont; handelt es sich um eine Epicondylopathia humeri ulnaris bzw. Insertionstendinose der Hand-/Fingerflexoren, werden die Parästhesien an der Hand eher ulnarseitig empfunden, so dass hier die Abgrenzung gegen eine Läsion des N. ulnaris am Ellbogen gelegentlich Mühe bereitet.
Weitere häufige tendinotische Affektionen, welche mit Parästhesien an der Hand einhergehen können, sind das Schulter-Arm-Syndrom, insbesondere die Periarthropathia humeroscapularis (ev. mit Kettentendinose) und – eigentlich nicht zu den Tendinopathien gehörend – das zerviko-spondylogene Syndrom. Beides muss gegen ein zerviko-radikuläres Syndrom abgegrenzt werden, was meistens schon klinisch gut möglich ist: Bei Tendinopathien oder Enthesiopathien bestehen fast immer belastungsabhängige Schmerzen und diese sind primär meist vordergründig (sekundär, nach Abklingen der Schmerzen stehen oft die Parästhesien im Vordergrund); ein wichtiges Unterscheidungskriterium zum radikulären Syndrom ist die Druckschmerzhaftigkeit über den «gereizten» Muskel-/Sehnensträngen und v.a. über den Sehneninsertionen, wo im typischen Fall durch Druck die bis in die Hand ausstrahlenden Parästhesien provoziert werden können.
Capsulo-synoviale Gelenksaffektionen
Typische Beispiele dieser Gruppe sind das Handgelenksganglion und die so genannte Styloiditis radii, welche nebst Bewegungs-/Belastungsabhängigen Schmerzen praktisch immer auch mit gegen die Hand ausstrahlenden Parästhesien einhergehen. Sehr häufig finden sich Parästhesien auch posttraumatisch nach verschiedenartigen Verletzungen im Gelenksbereich, insbesondere im Stadium der chronischen, «unspezifischen» Residualbeschwerden. Hier dürfte der Lokalbefund inklusive Druck- und Bewegungsschmerz diagnostisch weiterhelfen.
Handgelenks-/Fingerarthrose
Die Handgelenks- und Fingerarthrose kann praktisch identische Missempfindungen verursachen wie das CTS, ebenfalls Nacht- bzw. Morgen-betont mit ähnlichem Schwellungs- und Steifigkeitsgefühl beim Erwachen, bis die Hände richtig «angelaufen» sind. Auch hier können starke, allerdings arthrogene und nicht neurogene Nachtschmerzen vorherrschen. Wegweisend sind die Untersuchungsbefunde mit aufgetriebenen und/oder Bewegungs- sowie Druck-dolenten Gelenken.
Speziell erwähnt sei hier die posttraumatische Arthrose, indem Residualbeschwerden nach Frakturen im Gelenksbereich nebst Schmerzen sehr häufig auch wechselhafte Parästhesien beinhalten, welche neurologisch topisch nicht zugeordnet werden können.
Chronische Hyperventilation (HV)
Bei der chronischen Hyperventilation (z.B. bei psychosozialen Belastungssituationen) sind Parästhesien an der Hand häufig das herausragende Leitsymptom, welches zum Arztbesuch führt. Diese typischerweise stark wechselhaften Parästhesien werden am häufigsten ulnarseitig angegeben, wobei sie in streifenförmigem Areal meist deutlich über das Ulnaristerritorium nach proximal wahrgenommen werden, oft bis zum Oberarm (was – zusammen mit fehlender Beteiligung der Fingermotorik – oft schon klinisch eine Abgrenzung gegen eine Läsion des N. ulnaris ermöglicht). Die HV-bedingten Parästhesien sind häufiger lateralisiert als beidseitig, häufiger links als rechts. Wie die meisten der oben besprochenen Parästhesien sind auch die HV-bedingten Ruhe-betont; im Unterschied zum CTS ist das Intensitätsmaximum typischerweise abends vor dem Einschlafen und nicht morgens beim Erwachen. Die Diagnose lässt sich meist dadurch erhärten, dass auf entsprechende Nachfrage ähnliche Missempfindungen auch an anderen typischen Körperstellen angegeben werden wie im Gesicht (Wange, Lippen, Zungenspitze), Haarboden, an Oberschenkel, Fuss u.v.m. Auch findet man oft zusätzliche Symptome von HV bzw. vegetativer Dysregulation wie Lidflattern, ungerichteten Trümmel, Zugehen des Ohres etc.
Dr. med. Hans Schnyder, Facharzt FMH für Neurologie, Aarau
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01.08.2005 - dde |
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