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Lampenfieber, Betablocker und Künstlertum

Ängstliche oder freudige Erwartung, Lampenfieber, Zittern, Versagen oder einmaliger Moment, vielleicht sogar die Verliebtheit. Banalisieren Betablocker das Leben und die Kunst?

Klaus Neftel
 

„Das menschliche Gehirn ist eine grossartige Sache. Es funktioniert vom Moment der Geburt an – bis zum Zeitpunkt, wo du aufstehst, um eine Rede zu halten.“ So der lakonische Kommentar von Mark Twain zum Lampenfieber. Unter den Betroffenen und besonders den Musikern zirkulieren dagegen unendlich viele Geschichten, Meinungen, Erklärungen, Ratschläge, Behandlungsmethoden und Mythen dazu.

 

Dabei ist die Erklärung doch so einfach: Eine überfallartige Ausschüttung von Katecholaminen aus der Nebenniere. Der Physiologe Walter Cannon beschrieb die Reaktion 1915 mit “fight or flight“: Kampf oder Flucht. Die Reaktion ist für Tiere überlebenswichtig und war es auch für unsere Vorfahren. Nur: dem Publikum sollte man nicht davonrennen und schon gar nicht an die Gurgel springen. Besonders nicht, wenn man es mit einem gehauchten Pianissimo betören will.

 

Solche Erklärungen frustrieren die betroffenen Musiker eher als dass sie sie erleuchten. Die Not, das Übel los zu werden, ist viel grösser als der Wunsch, zu wissen, wie es eigentlich entsteht.

 

Zittert man wegen dem Lampenfieber oder hat man Lampenfieber wegen dem Zittern? Im Falle des Musikers stimmt beides. Zwar ist die Angst noch nicht das Lampenfieber und nicht jede Befürchtung führt dazu. Alle Musiker kennen aber den fatalen Teufelskreis, der beginnt, wenn sie zu allem Überfluss noch die lampenfiebrigen Defekte am eigenen Spiel hören müssen. Für Viele überraschend wird er durch gewisse extreme Beruhigungs- und Entspannungsmethoden noch verstärkt. Unter Stress werden die Betarezeptoren „heruntergefahren“, in völliger Ruhe oder im Schlaf reagieren sie maximal. Leichtes Seilspringen wäre wahrscheinlich besser.

 

Schon vor dem Auftritt wirken die selbsterfüllenden Prophezeiungen - meistens als Ratschläge getarnt:  „Konzentrieren Sie sich auf den Abend und freuen Sie sich auf den Auftritt, denken Sie daran, dass alle Lampenfieber haben und dass Sie Fehler machen dürfen, vergessen Sie nicht, sich zwischendurch immer wieder zu entspannen und lenken Sie sich bewusst ab“. Schlimmer wäre nur noch: „Denken Sie auf keinen Fall an einen weissen Bären“.

 

Nach einer verbreiteten Meinung ist Lampenfieber notwendig. Ohne Lampenfieber sei ein Auftritt lahm. Es sei das natürliche Aufputschmittel, gebe Kraft, mache wach usw. Eustress und Distress. Aber welcher Teil des Lampenfiebers ist gut und welcher nicht. Die Frage erinnert an die Geschichte, als man Henry Ford sagte, dass er 50% zu viel Geld für die Werbung ausgebe. Seine Antwort war: „Ich weiss schon, aber ich weiss nicht, welche Hälfte zu viel ist".

 

Die musikalische „Blässe“ eines lampenfieberfreien Vortrags lässt sich nicht dokumentieren, eher das Gegenteil. Vor dreissig Jahren habe ich mit einigen Kollegen eine umfangreiche Studie zur Wirkungsweise der Betablocker bei Lampenfieber durchgeführt (1). Es ging nicht darum, ob Betablocker wirksam sind. Das kann man an zwei, drei geeigneten Personen oder noch besser an sich selbst ziemlich schnell feststellen. Es wurde damals noch kolportiert, Betablocker seien „Anxiolytika“ mit direkter Wirkung auf das Gehirn. Unsere Arbeitshypothese war, dass dem nicht so sei und das Lampenfieber von Musikern bot eine ideale Untersuchungssituation. Teilnehmer waren auf hohem Niveau spielende Diplomabsolventen der Meisterklasse eines hochrenommierten Geigers. Die Direktion und der Professor waren sehr wohlwollend; eine ethische Komission gab es noch nicht.

 

Nachdem ich auf Wunsch des Meisters in der Hochschule etwas von den Ergebnissen präsentiert hatte, sah ich mich einer Front von Studierenden anderer Klassen gegenüber, die ein separates Gespräch mit diesem Drogenapostel verlangten, der sich anmasst, mit Chemie an ihrem Künstlertum zu rühren. Das Gespräch war dann äusserst interessant und endete erst nach einigen Stunden in der Weinstube auf der gegenüberliegenden Strassenseite. (Nebenbei stellte sich heraus, dass mehr als die Hälfte schon wiederholt Versuche mit Alkohol oder Valium angestellt hatte).

 

Dazu interessiert ein Nebenbefund: Die Musiker erhielten vor dem Konzert doppeltblind Betablocker oder Placebo. Die Konzerte wurden später noch einmal ohne Publikum und Tabletteneinnahme wiederholt. Ein professioneller Geiger hörte sich dann, ebenfalls „blind“, alle Aufnahmen an und befand, dass 9 der 11 „Placebo-Geiger“ im Konzert mit Publikum technisch schlechter spielten als ohne Publikum, während von den „Betablocker-Geigern“ einer als schlechter, sieben als gleich und 3 sogar als besser beurteilt wurden. In London wurde gleichzeitig eine Untersuchung nur zu der Qualität der Aufführungen gemacht, aber mit wesentlich mehr Geigern, einer ganzen Jury im Publikum und umfassender Beurteilung. (2) Die Ergebnisse deckten sich mit unseren. Ferner fanden die Juroren die Leistungen der Betablockierten auch musikalisch besser und expressiver. Eigentlich nicht überraschend. Ohne zitterfreies Piano und ohne sattes Forte kann man auch einen möglicherweise musikalisch wertvollen Effekt des Katecholaminsturms nicht ausdrücken.

 

Heikle Ergebnisse? Aus zwei Gründen überhaupt nicht. Als einzige Empfehlung ergibt sich, dass wer ohne Tablette nicht auszukommen glaubt, wenigstens nichts anderes nehmen soll. Zweitens dürften Empfehlungen pro oder kontra sowieso müssig sein. Schon vor 20 Jahren gaben in einer Umfrage mehr als 25% von über 2‘000 Orchestermusikern an, gelegentlich bis regelmässig Betablocker zu verwenden (3).

 

Zum künstlerischen Wert des Lampenfiebers noch ein zweiter Befund: Vor dem Konzert unterschieden sich die Befürchtungen und das Befinden der Betablockierten nicht von den Übrigen. Nach dem Konzert gaben die Musiker mit Placebo zwar wesentlich mehr Angst und körperliche Lampenfiebermanifestationen während des Konzertes an, waren aber der Meinung, dass sie musikalisch viel oder alles gegeben hätten. Die Betablockierten dagegen waren kritischer, erinnerten sich an viel mehr Details, auch an kleine Fehler.

 

Damit stellt sich die rhetorische Frage, ob man mehr für die Erfüllung der Zuhörer oder für die eigene spielen will. Auch wenn man dem Hirn alleine nicht vollständig vertraut, warum dann ausgerechnet den Nebennieren?

 

 

1. Neftel KA et al. Stage fright in musicians: a model illustrating the effect of beta blockers. Psychosomatic Medicine 1982;44:461-469 (pdf 590 kB)
2. James I et al. Effect of Oxprenolol on stage-fright in musicians. The Lancet 1977;2:952-954
3. Lockwood AH. Medical problems of musicians. New England Journal of Medicine 1989; 320:221-227

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06.02.2008 - dde

 
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