Ist die Schweiz für die EURO 08 wirklich gerüstet?
Bewegungsmangel ist ungesund, Sport oft auch. Forscher der Universität München haben die Kombination von beiden - ergänzt durch Alkohol, Salzstangen, Zigaretten und Schlafmangel - untersucht. Auch Ärzte, die die Euro 08 kühl lässt, müssen die Ergebnisse kennen.
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Peter Kleist |
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„Wie ein Jungbrunnen“, so die Einen; „Mord“, so die Anderen. Es ist die Rede vom Sport.
„Zu allererst kein Sport“ soll Winston Churchill angeblich auf die Frage nach dem Erfolgsrezept für sein hohes Alter geantwortet haben – angeblich deshalb, weil man diesen nirgendwo belegten Ausspruch praktisch nur im deutschsprachigen Raum kennt. Aber ... ist Sport denn nicht auch nur angeblich gesund? Bei Freizeitathleten mit verbissenen Leidensmienen, überhitzten roten Köpfen und einer zwischen Keuchen und Röcheln schwankenden Atmung kommen bereits erste Zweifel auf. Man denke jedoch in erster Linie an die vielfältigen Attacken auf den Bewegungsapparat - mitunter auf solche Muskeln, Sehnen, Bänder und Knochen, deren Existenz zwar unleugbar ist, die aber selbst dem normalen Arzt unbekannt sind und von denen ein weniger sportlicher Mensch erst gar keinen Gebrauch machen muss. Dass mehr als ein Viertel aller Unfallverletzungen Sportverletzungen sind, spricht eine deutliche Sprache. Für die Alltagsbewältigung vieler Mitmenschen nimmt der Physiotherapeut heutzutage eine entscheidende Rolle ein.
Kann man sich an sportlichen Höchstleistungen berauschen, ohne sich persönlich den mit ihnen verbundenen gesundheitlichen Risiken aussetzen zu müssen? Sicher, denn eigens hierfür wurde in den 1950er Jahren das Fernsehen erfunden. In den 1980er Jahren nahmen diverse Sportsender ihren Betrieb auf und seit kurzem ist das “Public Viewing“ Mode. Das gesamte Angebot ist inzwischen so gross, dass man gar keine Zeit mehr findet, selber Sport zu treiben. Somit leistet der passive Sport auf seine Weise einen nicht unerheblichen Beitrag zur Unfallprävention und folgerichtig zur Volksgesundheit. Doch dass Zuschauen bei sportlichen Grossereignissen risikolos ist, stellt eine jüngst im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie (1) einer Münchner Forschergruppe in Frage.
Nach Auswertung der Einsatzprotokolle von 24 Notarzteinrichtungen in München und Umgebung während der Fussballweltmeisterschaft im Juni 2006 zeigten sich 7 unerwartete Häufigkeitsgipfel kardialer Notfälle. Und zwar immer an den Tagen, an denen die deutsche Mannschaft spielte. Verglichen mit Daten aus den Vorjahren erlitten an diesen Tagen 3.3 mal so viele Männer und 1.8 mal so viele Frauen einen Herzinfarkt oder eine ernsthafte Herzrhythmusstörung, hauptsächlich Patienten mit bekannter koronarer Herzerkrankung. Ob die deutsche Mannschaft gewann oder verlor, war unerheblich. Vor allem der Elfmeterkrimi gegen Argentinien und das Halbfinalspiel gegen Italien, das erst kurz vor Ende der Verlängerung entschieden wurde, liessen den Notärzten selbst keine Zeit, das Geschehen life zu verfolgen. Prinzipiell erwiesen sich die ersten zwei Stunden nach dem Anpfiff als die gefährlichsten. Die Aufregung beim Fussballgucken birgt demnach also dramatische Gesundheitsrisiken für herzkranke Patienten! Stress ist ein Auslöser für Herzinfarkte, und Fussballspiele sind als Stress anzusehen.
In Anbetracht der vor der Tür stehenden EURO 08 sind diese neuen Erkenntnisse alarmierend! Überall in der Schweiz weisen digitale Anzeigen sekundengenau auf die noch verbleibende Zeit bis zum Anpfiff hin. Ironischerweise scheint diese für einige herzkranke Mitmenschen auch die verbleibende Zeit bis zu einem kardialen Notfall zu sein. Wie viele Sorgen müssen wir uns um Verwandte, Freunde oder Patienten mit vorgeschädigten Koronargefässen machen?
Die Mediziner der Universitätsklinik München glauben, dass Schlafmangel, gesteigertem Alkohol- und Zigarettenkonsum sowie Fast Food eine Triggerfunktion zukommt. Hier könnten sicherlich Präventivmassnahmen, z.B. adäquate Aufklärungsprogramme, einsetzen. Den Notfall- und Intensivmedizinern geht das aber nicht weit genug (schliesslich möchten auch sie das eine oder andere Spiel life verfolgen). Ausserdem packen diese Massnahmen das Problem nicht an der Wurzel an.
Im Sinne einer wirklich effektiven Sekundärprävention trägt sicherlich die Schweizer Nati die grösste Verantwortung. Wie viel Aufregung darf sie uns zumuten? Hat sie nicht aus Sorge um die Gesundheit der Schweizer Bevölkerung geradezu eine Verpflichtung für langweilige Spiele und ein frühzeitiges Ausscheiden? Dies wäre auch im Nachhinein eine akzeptable Entschuldigung für ein enttäuschendes Auftreten.
Darüber hinaus stellen sich zusätzliche Fragen in Bezug auf den Umgang mit kardialen Risikopatienten. Sollte man sie vor Beginn der Vorrunde einer ärztlichen Untersuchung zuführen und ihnen gegebenenfalls ein generelles Fernsehverbot im Juni erteilen? Zumindest aber für die Spiele mit Schweizer Beteiligung. Klar ist jedenfalls das Eine: Auf kardiologischen Stationen im Spital haben Fernseher nichts zu suchen.
Legt man aktuelle Daten aus dem MITRA-plus Herzinfarktregister zu Grunde (2), so bleibt es ein Rätsel, warum die EURO 08 im Juni und nicht im Dezember ausgetragen wird. An den Weihnachtstagen ist die Infarkthäufigkeit – völlig unerwartet - um 11% niedriger als der Jahresdurchschnitt. Vielleicht würden gefährdete Patienten ein paar zusätzliche Stressoren, wie zum Beispiel ein Fussballspiel, in dieser Zeit besser tolerieren.
Es bleibt nur noch wenig Zeit bis zum EURO 08-Anpfiff (oder für die Verlegung des Turniers in den Winter). Längst sind nicht alle Fragen gelöst. Die Schweiz wäre gut beraten, sich nicht nur um die äussere, sondern auch um die innere Sicherheit zu kümmern – vor allem um die in den Koronargefässen. Denn noch ist nicht alle Tage Weihnachten.
1. Cardiovascular Events during World Cup Soccer. Wilbert-Lampen U. et al. N Engl J Med 2008; 358: 475-483
2. Ein Herzensgeschenk vom Christkind. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V. vom 13. Dezember 2007
Mediscope
18.03.2008 - dde